Achim Biesenbach - Praxis für Psychotherapie - Hilden

Was sind eigentlich Zwangsmaßnahmen?

Ein wesentlicher Aspekt ärztlicher bzw. psychotherapeutischer Intervention ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Dringlichkeit einer Behandlungsintervention und dem Aspekt der Freiwilligkeit, mit dem der Patient die Behandlung akzeptiert. Diese Frage spielt besonders im Zusammenhang mit der Krisenintervention bei der Einweisung eines Patienten in die Psychiatrie eine wichtige Rolle.

Das in Artikel 2 Abs. 1 im Grundgesetz formulierte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit verbietet üblicherweise einen Behandlungszwang. Die Grenzen sind jedoch schwer bestimmbar und fließend. So mag bei bereits eingetretener Bewusstlosigkeit eines Suizidenten die Intervention keiner Rechtfertigung bedürfen. In Entscheidungszwängen der Helfer, wie etwa nach einer Suiziddrohung, erfordert die Intervention gegen den Willen des Betroffenen aber besondere Rechtfertigung. Im Extremfall der Entscheidung für eine Zwangsunterbringung, z.B. wegen Seuchengefahr, Verwahrlosung, Suizidgefahr, psychischer Verwirrtheit mit dem Risiko einer Fremdgefährdung, gilt der Betroffene juristisch als "eingeschränktes Rechtssubjekt".

Entscheidungshilfen und Kriterien geben die Unterbringungsgesetze (zumeist die "Gesetze über die Hilfe- und Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten") der Bundesländer, für die sich die Abkürzung "PsychKG" eingebürgert hat.

Die Unterbringungsgesetze werden nach Artikel 104 des Grundgesetzes kontrolliert, das die Grundlagen der richterlichen Gewalt bei Freiheitsentziehung beinhaltet. Die PsychKG-Regelungen z.B. in Baden-Württemberg legen fest, daß die Einweisung eines Patienten gegen seinen Willen in ein psychiatrisches Krankenhaus vom Gesetzgeber für den Fall vorgesehen ist, daß der Erkrankte sich oder andere hinsichtlich Leben und Gesundheit gefährdet und diese Gefahr nicht anders als durch die Unterbringung abgewendet werden kann.

Bei Gründen, die zur Klinikeinweisung Anlaß geben, handelt es sich zumeist um Selbsttötungsabsichten, Verwahrlosungsgefahr mit Bedrohung der eigenen Gesundheit, seltener um Bestrebungen, anderen Menschen Schaden zuzufügen oder sie sogar zu töten, da Gewaltanwendung und -androhung bei psychisch Kranken nicht häufiger vorkommen als bei psychisch nicht gestörten Personen. Wenn kein Zeitdruck besteht, kann der Antrag durch Angehörige durch Freunde bei der unteren Verwaltungsbehörde gestellt werden, d.h. beim Ordnungsamt oder - was wegen der fachlichen Kompetenz ratsamer ist - beim Gesundheitsamt.

Kommt es auf diesem Wege zu einem Antrag auf Unterbringung, etwa durch den Psychiater beim Gesundheitsamt, so ist eine gerichtliche Anhörung des Patienten vorgesehen. Diese darf nur verschoben werden, wenn Gefahr im Verzug ist.

Wird der Patient unmittelbar untergebracht, so muß er innerhalb von 72 Stunden vom Richter im Krankenhaus angehört werden. Dies ist ein relativ langer Zeitraum, der in aller Regel Gespräche zwischen Ärzten oder Psychotherapeuten, Angehörigen und Patienten ermöglicht. Diese Bedenkzeit führt in vielen Fällen dazu, daß eine Zwangseinweisung abgewendet werden kann, weil viele Patienten sich dazu entschließen, freiwillig in der Klinik zu bleiben.

Die Unterbringung oder sogar die Behandlung des Patienten gegen seinen Willen stellt eine ultima ratio im Umgang mit dem Betroffenen dar, die nur erwogen werden sollte, wenn wirklich alle Möglichkeiten privater und professioneller Hilfe ausgeschöpft wurden. Denn für den Betroffenen kann ein solcher Vorgang zu einer dauerhaften Belastung in seiner Beziehung zu psychiatrischen Einrichtungen und zu psychotherapeutisch-ärztlicher Hilfe führen, auf die er möglicherweise zukünftig noch dringend angewiesen ist.

Nach niedersächsischem Landesrecht (§12 des niedersächsischen Gesetzes über Hilfen für psychisch Kranke und Schutzmaßnahmen vom 30. Mai 1978) ist die Unterbringung nur dann zulässig, wenn

  1. die dringende Gefahr besteht, daß sich der Betroffene in Folge einer Krankheit, Störung oder Behinderung im Sinne des §1 Nr. 1 schwerwiegenden Schaden zufügt oder
  2. daß das durch die Krankheit, Störung oder Behinderung bedingte Verhalten eine dringende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung darstellt und diese Gefahr auf eine andere Weise nicht abgewendet werden kann.

§1 des niedersächsischen Psychiatriekontrollgesetzes, auf den die eben zitierten Unterbringungsvorschriften verweisen, lautet:

"Das Gesetz regelt ... 1. Hilfen für Personen, die an einer Psychose, an einer Suchtkrankheit, an einer anderen seelischen oder geistigen krankhaften Störung oder an einer seelischen oder geistigen Behinderung leiden oder gelitten haben oder bei denen Anzeichen einer solchen Krankheit, Störung oder Behinderung vorliegen. 2. Schutzmaßnahmen, einschließlich der Unterbringung und des gesetzten Verfahrens zur Unterbringung für Personen, die an einer Krankheit, Störung oder Behinderung im Sinne von Nr. 1 leiden".

Als "Unterbringung" definiert das niedersächsische Psychiatriekontrollgesetz, daß jemand gegen seinen Willen oder im Zustand der Willenlosigkeit in den abgeschlossenen Teil eines Krankenhauses eingewiesen wird und dort verbleiben soll (§10 Abs. 1).

Nach Abs. 2 dieser Vorschrift liegt eine Unterbringung im Sinne des Psychiatriekontrollgesetzes auch dann vor, wenn jemand unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht oder ihm ein Pfleger bestellt ist, der das Recht auf Aufenthaltsbestimmung hat und wenn die Einweisung nach Abs. 1 gegen den Willen des Inhabers der elterlichen Sorge, des Vormunds oder des Pflegers erfolgt oder der Inhaber der elterlichen Sorge, der Vormund oder der Pfleger keine Erklärung abgibt.

Die verschiedenen Länder haben also jeweils eigene Unterbringungsbestimmungen. Die einzelnen Landesgesetze unterscheiden sich zum Teil wesentlich voneinander. Die Unterbringung nach dem Psychiatriekontrollgesetz kommt aber erst in Betracht, nachdem die bürgerlich-rechtlichen Unterbringungsmöglichkeiten zu keinem Ergebnis geführt haben.

Das öffentlich-rechtliche Unterbringungsgesetz ist also gegenüber dem bürgerlich-rechtlichen Unterbringungsrecht nachrangig.

Zusammenfassend lässt sich sagen, da das Gesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 2 und 104 Abs. 2 die Freiheit der Person garantiert, daß jede Einschränkung dieser Freiheit gesetzlich geregelt sein muß, so auch die Unterbringung eines psychisch Kranken gegen seinen Willen in ein psychiatrischen Krankenhaus, nämlich durch einen Richter.

Die Unterbringung eines Betreuten durch seinen Betreuer ist eine sogenannte privat-rechtliche Unterbringung, die nach §1906 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) grundsätzlich der Genehmigung des Vormundschaftsgerichtes bedarf.

Für die übrigen Patienten ist die sogenannte öffentlich-rechtliche Unterbringung in Landesgesetzen, den sogenannten Psychisch-Kranken-Gesetzen oder Psychiatriekontrollgesetzen geregelt. Sie stimmen im wesentlichen darin überein, daß sowohl eine behandlungsbedürftige Krankheit als auch eine ernsthafte Gefahr für den Kranken oder die Allgemeinheit vorliegen müssen.

Die Unterbringung eines Kindes erforderte früher keine rechtlichen Maßnahmen, sofern die Eltern und Erziehungsberechtigten als Inhaber des Personensorgerechts und des Rechts der Aufenthaltsbestimmung einverstanden waren. Seit dem 1. Januar 1980 ist nach §1631b (BGB) eine Unterbringung eines Kindes, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist, nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zulässig.

Strafrechtlich ist in bezug auf eine Unterbringung folgendes festgehalten: §63 des Strafgesetzbuches regelt die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus:

"Hat jemand eine rechtswidrige Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit (§20) oder verminderten Schuldfähigkeit (§21) begangen, so ordnet das Gericht die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, wenn die Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat ergab, daß von ihm infolge seines Zustandes erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist".

Da eine Zwangseinweisung einen schwerwiegenden Eingriff in die Persönlichkeitsrechte des Patienten darstellt, müssen die Folgen genauestens überdacht werden. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, daß Zwangsmaßnahmen eine erhebliche, oft nicht zu kompensierende Belastung der psychotherapeutischen Beziehung darstellen.

Durch viel Überzeugungsarbeit sollten alle Beteiligten versuchen, Zwangseinweisungen nach Möglichkeit zu verhindern, also eine freiwillige stationäre Behandlung zu ermöglichen, dort, wo sie notwendig oder sogar unumgänglich ist. Nur wenn wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, verbleibt die Zwangsmaßnahme als ultima ratio.

Auf der anderen Seite sind Situationen vorstellbar, die ein rasches Handeln erfordern. Im Zweifel muß eine tatsächliche Selbst- oder Fremdgefährdung einen höheren Stellenwert haben als die therapeutische Beziehung. Im übrigen ist eine solche Entscheidung natürlich nicht nur juristisch, sondern auch ethisch zu rechtfertigen.